Auf meinen Magen als pflichtbewussten Schwerkraftsantagonisten in besonders heiklen Situationen ist auch jetzt Verlass. Die Flauheit drückt mit aller Kraft gegen mein Zwerchfell, während ich zaghaft aus dem Beifahrerfenster des Kastenwagens schiele. Hinab in den schroffen Schlund der südlichen Westalpen. Wo Kammstraßen-Bruchstücke in markantem Stein-auf-Stein-Klacken talwärts kullern, um in der vertikalen Unendlichkeit dumpf zu verhallen.
Reflexartig verlagere ich mein gesamtes Gewicht auf die linke - die zur Mitte der Fahrerkabine liegende Po-Backe. Völlig wirkungslos in Anbetracht meiner lächerlichen 65kg. Aber immerhin - ein netter Versuch den dreieinhalb Tonnen schweren Van in Balance und AUF der bröckeligen Militärstraße zu halten.

'Nicht am Ziel werden Menschen groß. Es ist der Weg dorthin' - Ralph Waldo Emerson
Zwei Menschen. Zwei Hunde. Eine unbefestigte Kammstraße. Etwa 2,20m breit. Ein Kastenwagen. Exakt 2,05m breit. Üppige 15cm Spielraum also. Ach ja, und ein ziemlich tiefer Abgrund. So die Bilanz unserer Situation. Zweifellos ein schlechter Augenblick für Hysterie. Denn noch nie war Souveränität von mir als Co-Pilotin mehr gefragt.
Ich kenne ihn nur zu gut, den Bruchteil der Sekunde vorm Lostreten einer Panik-Kaskade. Nicht länger als ein Augenblick. In dem ich noch bestimmen kann, was die Angst im nächsten Moment macht. Lähmt sie mich oder lähme ich sie?
Tief Luft holen hilft. Meistens. Und ein Fokus. Der hilft auch. Immer.
Und so recke ich schließlich meinen Hals erneut Richtung Beifahrerfenster - das Popscherl bleibt freilich vorsichtshalber fest am Sitz - um den tapferen Herrn am Steuer Millimeter für Millimeter um eine brüchige Kurve und an der tiefen Kluft entlang zu dirigieren.
Erstaunlicherweise weicht das Unbehagen mit jeder - wenn auch schleppenden - Umdrehung der Antriebsräder. Und macht Platz der unverwechselbaren Euphorie, gemeinsam das Leben zu spüren.
Wir sind erneut im Piemont unterwegs. Auf einer der berühmten Kammstraßen der Südwestalpen.
Militärstraßen in den Westalpen - Panoramawege mit schwarzer Vergangenheit
Ein vermeintlich zu kurz geratener Franzose mit Weltherrschaftsfantasien hat sie ebenso benutzt und erweitert, wie auch später ein gewisser Jähzorns-geplagter Diktator, landläufig besser bekannt als ‚Il Duce‘.
Sie sind Zeugen des Schreckens. Und Wege ins Glück. Seelenfurcht und Seelenentzückung in einem. Die Rede ist von alpinen Militärstraßen.
Kaum vorstellbar, aber das bis heute sehr spärlich besiedelte Grenzgebiet der Südwestalpen um die Regionen Provence-Alpes-Côte d’Azur in Frankreich und dem italienischen Piemont hatte über Jahrhunderte eine hohe militärstrategische Bedeutung für ganz Europa. So wurden bereits ab 1515 eine Vielzahl der Passübergänge durch Festungen gesichert und bis ins Jahr 1940 ausgebaut und mit einem vergleichsweise dichten Straßen- und Wegenetz zugänglich gemacht. Darunter auch die sogenannte Kammstraße - Verbindungsstraßen am oder nahe dem Alpenhauptkamm.
Zu grob gepflasterten Saumwegen für Manpower und Maultierkarawanen kamen im 18. Jahrhundert die verhältnismäßig gut ausgebauten Strade dei Cannoni - 1,50 breite Wege, die den Transport von zerlegbaren Kanonen über die Alpen ermöglichten.
Die neueren Militärstraßen - erbaut ab 1876 - erreichten schließlich eine Breite von 2,20m bis 3,50m und waren bereits als waschechte Fahrstraßen beschaffen. Wenngleich die Anzahl der KFZs der Alpini-Truppen nicht sonderlich üppig war. (Quelle)
Seit Ende des zweiten Weltkriegs indessen, wird auf den traumhaft angelegten Wegen und Straßen nur mehr zum puren Vergnügen marschiert. Und auf einigen auch gefahren…
Nice to know...
Jene Militärstraßen, die einen Wert für die Bevölkerung darstellten, wurden nach dem Krieg nach Bedarf adaptiert und asphaltiert um der Region Südwestalpen schließlich ihr ganz besonderes Charakteristikum zu verleihen: Eine endlose Vielfalt an - für den Verkehr freigegebenen - asphaltierten Passstraßen.
Col Cruising in den Französischen Alpen
Mit einem hundsgewöhnlichen Kastenwagen in die Kammstraße? - Wenn Trolle ganze Arbeit leisten
Seit Wochen schon geistern sie unablässig in unseren Köpfen. Militärstraßen-Kobolde. Immer wieder. Kleine freche Pumuckls, die versuchen, uns zu einem epochalen Abenteuer mit unserer behäbigen Karre anzustiften.
Und seit Wochen betreibe ich die Recherche meines Lebens. Meine Gründlichkeit im World Wide Web lässt sich in etwa vergleichen mit der meiner Hunde. Und zwar bei der akkuraten Sauberleckung eines kameradschaftlich geteilten Joghurtbechers.
Analysen unzähliger YouTube Videos, stöbern in dutzenden Blogbeiträgen, wühlen in unendlich vielen Foren. Den Nachweis, dass die Strecke mit einem vergleichbaren Van - nämlich lang, hoch, wenig Bodenfreiheit und angetrieben einzig von der Vorderachse - realisierbar ist, bleibt uns der werte Herr Google indes schuldig.
Unschlüssig verbleiben der Lieblingsmensch und ich gegenüber der Flause, eine der Kammstraßen des Piemont mit unserem Kastenwagen zu befahren. Während der Berggeist in unserer Rübe fröhlich - und entgegen aller Vernunft - vor sich hin spukt.
Die Magie des richtigen Moments - Und ganz plötzlich finden wir uns auf einer Kammstraße
Rrrrrrums. Mit beidseitigem Kraftgriff hält der Lieblingsmensch das Lenkrad hartnäckig umschlossen und den Van konsequent in der staubigen Spur.
Rrrrrrums. Fokussierte Blicke - vorbei an der milchgrau angestaubten Windschutzscheibe. Auf eine knapp zwei Meter breite Kammstraße. An deren Rand sich die Landschaft des Piemont von über 2000m ü.A. in der beinahe senkrechten Ewigkeit verliert.
Rrrrrrums. Wow, wir haben’s getan….
Es soll schließlich eine - von Herzklopfen begleitete - Jetzt-oder-Nie-Entscheidung werden. Eine Augenblicksidee. Getroffen in der Restverschleierung einer gerade abgelaufenen Schlechtwetter-Periode, die wenig Gegenverkehr auf der einspurigen Straße verspricht. Und getragen von der Intuition, dass wir - gemeinsam unterwegs - absolut unbesiegbar sind. 💪🏻
Jeder Meter, den unser Kastenwagen über den unbefestigten Weg poltert, eine Präzisionstat des Lenkers. Jede gefahrene Kurve eine akribische Lotser-Leistung meinerseits. Und jedes mühevolle Reversieren auf der einspurigen Militärstraße von beiderseitiger pedantischer Sorgfalt.
Und gerade deshalb: Diese schweißtreibende Kriegsstraßen-Spritztour - ein intensiver Ritt, der näher am Abgrund nicht sein könnte - versetzt uns gemeinsam in einen glühenden Rausch. Ein Leuchten, von dem wir noch Monate zehren werden. 🌟
1000 Shades of Grey - Monumentale Werke aus aschfarbenen Geröll
Nichts von Menschenhand Erschaffenes fügt sich so vollkommen in die alpine Natur ein, wie eine unbefestigte Militärstärstraße und deren sporadische Begrenzung aus Trockensteinmauer. Eine - aller Unregelmäßigkeiten zum Trotz - Vollendetheit aus Staub und weißgrau bis anthrazit schimmernden Fels, gerahmt vom einzigartigem Panorama des Piemont. Kriegskunst. Stoisch und - im Widerspruch zu ihrer eigentlichen Funktion - voll friedlicher Harmonie.
Was tut dieser Anblick gut… 😌
Darf’s ein bisschen Militärstraßen-Melancholie sein?
Trübe Gedanken trotz Idylle? Mein Leben…
Während wir hier oben auf der Kammstraße gerade ein nicht ganz ungefährliches Spiel mit unseren und den Grenzen des Fahrzeugs spielen, existiert an selber Stelle über Jahrhunderte nichts als trostloser Truppen-Alltag. Mutmaßlich. Und der lässt mich nicht los.
Ein Blick in den Rückspiegel auf eine dichte Staubwolke. Und, als wär ich ein Staubfluserl, ein federleichtes Körnchen der aufschwellenden Wolke, trägt mich meine Fantasie in andere Epochen…
Und so bin ich Artillerist, Infanterist, Feldwebel, Leutnant, König, Kaiser. Ich bin Reiter, ich werde geritten. Ich bin Sanitäter, ich bin Feldkoch. Ich bin Kriegsgefangener, ich bin Söldner. Ich bin Ingenieur, ich bin Steinmetz. Ich bin Lastentier. Ich bin Vater, ich bin Sohn, ich bin Ehemann, ich bin Bruder. Ich bin Kamerad, ich bin Arschloch. Ich bin dünn, ich bin dick. Ich bin stolz, ich bin loyal, ich bin siegessicher, ich bin mutig. Ich bin gesellig, ich bin tröstend, Ich bin ängstlich, ich bin scheu, ich bin gehorsam. Ich bin erschöpft, ich bin krank, ich bin traurig. Ich bin besorgt, ich bin einsam. Ich bin sehnsüchtig, ich bin abenteuerlustig. Ich trage Uniform, ich trage Hut, ich trage Helm, ich trage eine Waffe, ich trage Stiefel, die Blasen verursachen. Mir ist kalt, mir ist warm. Ich bin hungrig, ich bin durstig. Ich bin pappsatt und betrunken. Und selbstverständlich bin ich namenlos.
Zurück aus La-La-Land. Mit ganz und gar großen Erkenntnissen.
Obgleich harter Zeiten - Armut, Perspektivlosigkeit, Hunger, Krieg und mit ziemlicher Sicherheit mit einer Mordsangst - meine ich, die atemberaubende Schönheit der Militärstraßen, wie sie sich himmelsnah entlang der beeindruckendsten Höhenzüge der Westalpen schlängeln, MUSS doch für jedes Individuum hier oben - wenn auch nur für einen kurzen Moment - wahrlich als Herzenstrost gewirkt haben.
Kammstraßen in den Westalpen als Must-Do für Kastenwagenfahrer?
Ich könnte bis in alle Unendlichkeit Loblieder auf unser Militärstraßen-Abenteuer trällern. Von der Szenerie der Südwestalpen inspirierte Schmachtfetzen. Oder gar Schnulzen auf den Mann, der unseren unterqualifizierten Kastenwagen ziemlich qualifiziert durch die Landschaft steuert. Wie wär’s mit Hymnen auf überwundene Ängste hysterischer Co-Pilotinnen? Oder vielleicht lieber rhythmische Schlager auf ultracoole Hunde, die einem knarzenden Möbelbau allenfalls ein halboffenes Äuglein widmen?
Bei all meiner Schwärmerei - Eine Kammstraße mit einem ganz gewöhnlichen Kastenwagen zu bezwingen, bleibt ein ziemlich heikles Unterfangen.
Es ist nicht im Geringsten der - auf den Militärstraßen des Piemont - angeblich unumgängliche 4x4 Antrieb, der an diesem Tag für tiefe Furchen auf unserer Stirn sorgt. Ebenso nicht das Long-Distance-Zurücksetzen der 6,4m. Nämlich dann, wenn auf der einspurigen Kammstraße dann doch mal Gegenverkehr herrscht.
Nein, das Hinkebeinchen versteckt sich vor allem im langen Radstand unseres Vans. So manche Kurve geht gerade so. In Mäuseschritten. Und mit einer Beifahrerin, die sich sprichwörtlich sehr sehr weit aus dem Fenster lehnt, um zu beurteilen, um wieviele Millimeter man sich noch über den Rand der unbefestigten Straße hinaus tasten kann. Bevor Karre samt Inhalt für immer von den Westalpen verschlungen wird…
Ob ich dieses Abenteuer anderen Reisenden mit einem ähnlichen Van empfehlen würde? Um ehrlich zu sein - Nein.
Es sei denn, man bezeichnet sich selbst als ausgezeichnetes und besonnenes Fahrer-Beifahrer-Team. Mit dem Nervenkostüm eines Braunesels.
Faszinierend. Das würde ich auch gerne mal machen. Allerdings vielleicht mit ein biiisschen weniger Radstand. Was mich allerdings bei der Lekture überrascht hat: Sind diese Strassen tatsächlich für den Verkehr freigegeben? Bei uns in der Schweiz sind die Militärstrassen eigentlich ziemlich ausnahmslos Fahrverbot.
Grüssli Oli,
Eine Handvoll der Kammstraßen in den Südwestalpen sind tatsächlich unter verschiedenen Auflagen wie Maut, Nachtfahrverbot, Wochenendfahrverbot o.Ä. befahrbar.
Mit welchen Fahrzeug bist du unterwegs?
Liebe Grüße aus Tirol,
Steffi
Wahnsinn wo ihr euch so hin traut!!!! Hut ab!!!! Da müsste man bald bei Fiat ein Werbebild schicken wo ihre Fahrzeuge so hin kommen !!!!!!!!!!
Super Bilder , wie immer, und bei jedem Blog fiebere ich mit!!!
Ihr habt so was von recht, geniest das Leben!
Bin gespannt auf weiter Berichte von euch vieren !!!!
Servus Andy,
Ja, der Ducato kann echt deutlich mehr als man so meinen würde… 😉
Ich bin auch schon gespannt, wo wir noch überall hinfinden. Dieses Jahr jedenfalls probieren wir im Haupturlaub voraussichtlich mal ganz was Neues aus – Ich werde mit den zwei Mädls alleine im Van losziehen 🤸🏻♀️ 🐾🐾
Und der Mann begibt sich mit der ‚Anderen‘ 🏍 auf Reisen.
Herrlich und eindrucksvoll beschrieben und mit den Bildern kann man realisieren wie „breit“ die Wege waren.
Das Ganze wäre eine herrliche MTB-Tour.
Da hast du vollkommen recht Peter – ein absoluter Traum zum Mountainbiken…
Wie immer traumhaft, abenteuerlich und inspirierend geschrieben. Es macht Lust das Abenteuer selbst in die Hand zu nehmen. Die Bilder, der Text einfach gut 👍 abgestimmt.
Ich glaube, jeder der hier mal bei euch reinschaut, der fühlt sich sofort aufgehoben und
freut sich auf viele viele neue Abenteuer.
Ist ja volle Irre, wo ein Kastenwagen vielleicht mal tatsächlich die Grenzen setzen wird.
Jetzt ist schon mal ganz klar, die Grenze eines Abenteuers wurde sehr weit nach oben korrigiert.
Danke 🙏 für die Unterhaltung.
Macht weiter.
Grüße Mike
PS:
das neue kleine Video ist gelungen. 😀😀😀
Servus Mike,
Danke für die schönen Worte. Geht wieder mal runter wie Butter…. 🤤
Der Ducato wird echt unterschätzt, oder? Aber der kommt ja immerhin aus der Region…. 🤷🏼♀️
Hi Steffi,
erstmal WOW!!!
Ich stöbere nun fast eine Stunde auf deinem Blog und ich werde immer neidischer!! Wenn ich mich durch die Beiträge klicke, denke ich mir immer öfters „Ich will auch!!“.
Ich werde deinen Blog (teilweise jedenfalls) eindeutig als Inspiration für unsere nächsten Abenteuer nehmen!!
Wunderschöne Bilder, super Texte!!
Vielen Dank für dieses Lese-Erlebnis.
Liebe Grüße aus dem Schwoaba Ländle,
Emily
Servus Emily,
Merci, dein Kommentar geht runter wie warme Butter… 😜
Ich war übrigens schon zum Gegenbesuch auf eurem Blog und kann die Komplimente nur zurückgeben. Sehr erfrischend, mega unterhaltsam 👌🏼
Vielleicht sieht man sich mal unterwegs?
Grüßli ins Schwoaba Ländle 😁
Steffi