Die Morgensonne leuchtet spät am Ende der Welt. Und mein tageslichtgesteuerter Biorhythmus reagiert - mit Ausschlafen. Die Hunde? Seit jeher angepasst. 

So rollen wir uns, wenige Minuten bevor die Wintersonne auch das westlichste Eck Kontinentalfrankreichs - Finistère - in glühendes Morgengold legt, auf der Kuschelwiese des Vans übereinstimmend nochmals ein. Und lassen uns im Takt atlantischer Windböen in einen abermaligen lauschigen Dämmerschlaf wiegen.

Lektion 1: Aller guten Dinge sind drei - Von Sprichwörtern und Love Storys

Ich kann sie nicht ausstehen, diese ach so geistreichen Sprichwörter. ‚Was du heute kannst besorgen, …‘ etwa. Oder das besonders philosophisch klingen-wollende ‚Stille Wasser sind tief‘. Abgegriffene Floskeln, tausende Male hervorgekramt vom Menschentyp altkluge Großtante, die damit ungefragt einen besonders wertvollen Beitrag zum Leben anderer zu leisten versuchen.

Dass im Bezug auf so manches Reiseziel die originelle Dreierregel aus der Überschrift allerdings durchaus Berechtigung findet, davon erzählt meine Liebesgeschichte zur Bretagne.

Mein erster Roadtrip in den französischen Nordwesten findet im Juli 2018 statt. Sommer. Hauptsaison. Als äusserst eindrucksvoll bewerte ich die Kulisse. Noch viel eindrucksvoller jedoch ist die Anzahl anderer Reisender. So schnell wir gekommen sind, so zügig stehlen wir uns wieder davon.

So manchen Fehler begeht man vermeintlich nur ein Mal im Leben. Bis man halt dann doch ein zweites mal über ihn stolpert. Denn auch Versuch Nummer 2 mit der nur allzu schönen Bretagne Freundschaft zu schließen, missglückt: 

2020. Das erste Pandemiejahr. Es ist Herbst und der zweite Lockdown scharrt bereits ungeduldig mit den Hufen. Ich auch übrigens, denn mein Reisejahr fiel bislang mager aus. Wie geistreich von mir, ausgerechnet jetzt den letzten Winkel Frankreichs zu besuchen, der noch nicht mit einer Reisewarnung belegt ist.

Einmal mehr ist’s schließlich die dicht an dichte weiße Flotte, die mich überfordert und frustriert in die Flucht schlägt. 🚐🚐🚐🚐🚐

Das Sprichwort sollte Recht behalten. Aller guten Dinge sind wirklich drei. Beim dritten Anlauf - Winter 2021/22 - darf sie schließlich erwachen, die zügellose Liebe zur wilden Bretagne.

Lektion 2: Die ideale Reisezeit - Oder: Ein Hoch auf die Einsamkeit

Der Tourismus - und davon insbesondere in den Küstengebieten nicht zu wenig - stellt für die Bretagne mitunter einen der wichtigsten Wirtschaftszweige da. Neben Landwirtschaft und Fischerei. 

Ferienhäuser, Campingplätze, Stellplätze, Parkplätze, Läden, Bistros, Spielplätze - alles da. Und zwar reichlich.

Immerhin hat man in dieser Region weitestgehend auf das Hochziehen landschaftsverstümmelnder Bettenburgen verzichtet. Und immerhin fällt das Gros der Urlauber beinahe ausschließlich von Mai bis September ein.

Nun ist es eben einfach mal wie es ist - ich mag keine Menschen. Also ein paar mag ich schon. Einzelne. Wenige. Aber ich mag kein Menschengetümmel. Ich mag keine überlaufenen Wanderwege. Ich mag keine überfüllten Strände. Ich mag meine Hunde nicht andauernd an der Leine führen. Und ich mag beileibe kein Kuschelcamping.

Was ich mag, ist Abgeschiedenheit. Mit einsamen Wanderungen. Und menschenleeren Küsten. Freiheit für die Fellnasen. Und - last but not least - meiner Individualdistanz angepassten Stellplätzen. Von all dem kann man in der Bretagne ausschließlich - dafür aber endlos - im Winter kosten.

Winterliche Temperaturen wie zuhause? Keine Rede. Der Nordwesten Frankreichs ist Günstling des Golfstroms. Bei durchschnittlichen 10 - 12 Grad im Dezember verbringen wir den Heiligabend draußen vor dem Van. Bei Rotwein und Meerblick.

Lektion 3: Bretonischer Schick - oder: Gut gekleidet durch die Bretagne

Mein Schweinehund wär kein Hund, würde er nicht beim Blick aus dem Fenster des Kastenwagens Freudensprünge vollführen. Mein persönlicher Lump ist nämlich ein stockhaariger Struppi, der das Rauhe, das Wilde über alle Maßen liebt.

So dient das Spektakel - von ostwärts preschenden himmelhohen Wolken, von krummen, im harschen Wind zappelnden Sträuchern, Gräsern und saftlosen Farnen, von dunkelgrauen horizontnahen Niederschlagszellen - ja geradezu als Einladung, den kuscheligen Van zu verlassen. 

Eine Dosis Leben. Und zwar stilecht. In den heißgeliebten jagdgrünen Gummistiefeln. Der Schuh, der mir wohl am allermeisten Wonne bereitet. Ja, und trockene Füßchen sowieso. Und in meiner grünblauen Plastikjacke. Die kein Molekülchen passieren lässt. In beide Richtungen. Und in einer zur Vollendung des rustikalen Bretagne-Outfits schlichten Strickhaube. Marke Oma.

Und so wie ich nun - adäquat adjustiert - mit *Chumani, Skye und dem heiteren Herrn Schweinehund Richtung Strand losstapfe, erfreue ich mich all der Wucht der winterlichen Bretagne.

Lektion 4: Nach links? Nach rechts? Auf alle Fälle GR 34.

Nichts liegt während eines Bretagne-Roadtrips näher, als für die täglichen Gassi-Runden über Teiletappen des GR 34 zu schlendern. Sprichwörtlich sogar. Schließlich grenzt kaum einer der küstennahen Wohnmobilstellplätze nicht unmittelbar an den etwa 2000km langen Zöllnerpfad, den Sentier des Douaniers.

Der GR 34 ist übrigens durch und durch Küstenwanderweg, sein Verlauf stellt eine regelrechte Blaupause der zerklüfteten bretonischen Küstenlinie dar. So ergründen meine Hunde und ich Tag für Tag und mit jedem Schritt neue Facetten der hiesigen Wildheit.

Kein Strandabschnitt in der Bretagne gleicht dem anderen, keine Landspitze deckt sich. Streckenweise etwa knirscht ozeangeschliffener Muschelbruch unter der Vibramsohle meines Gummischuhs, wohingegen andernorts der Atlantik Pfotenabdrücke im feinen Sand brandet just sowie sie entstehen. Oder mancherorts wandern wir durch kniehohes - jahreszeitlich bedingt - verblühtes Strauchwerk, während wir hier und da über saftgrüne Wiesen streifen. Dann und wann schlängelt sich der Zöllnerpfad entlang einer Düne. Letztere erweisen sich wie zufällig als Lieblingsabschnitte meiner Hunde. Denn hier duftet es überall nach Kaninchen… 🐇

Lektion 5: Winterliche Muscheljagd - So schmeckt Bretagne 

Ließen sich meine Hunde noch vor wenigen Stunden auf dem schmalen Strand von den sacht heranrollenden Wellenfronten die Füßchen umspülen, so eröffnet sich nun vor uns eine scheinbar endlos in den Horizont reichende flache feinsandige Bucht. Das Spiel der Gezeiten. Und der Auftakt zum sogenannten pêche à pied. Der Jagd nach Krebsen, Austern, Miesmuscheln und den nussig schmeckenden Jakobsmuscheln.

Bewaffnet mit Plastikkübel und Rechen erklärt mir meine heutige Strandbekannschaft Olivier, dass das händische Sammeln von Jakobsmuscheln, sowie die anschließende schlichte Zubereitung mit Butter, Knoblauch und Zitrone, quasi bretonisches Kulturgut sei. Eine Wintersitte, betont Olivier, bevor er in seinen Gummistiefeln davonwatet. Denn in der Bretagne ist die Jagd auf Jakobsmuscheln zur Sicherung der Bestände - und des Preises - auf die Saison von Oktober bis April beschränkt.

Auch wir begeben uns auf die Jagd. Allerdings ausschließlich nach unbewohnten Muschelschalen. Zum Andenken. Und zum Sinnieren. Über die wunderschöne Bretagne…

Lektion 6: Ein bisschen Nichtstun - Vom Glück, gemeinsam aufs Meer zu blicken

Dem Image der wander-affinen Mountain Misses zum Trotz, bedarf es für meine Hündinnen und mich für’s Durch-und-Durch-Wohlgefühl ab und an nicht mehr, als den Anblick des Atlantiks. Insbesondere seit Chumani schlichtweg zu alt für Gipfelsiege geworden ist und Skye sich regelmäßig mit den Begleiterscheinungen ihrer Autoimmunerkrankung abhundet. 

Allzu oft versteckt sich Eurvad - das bretonische Wort für Glück - in unaufgeregten Details. Die vielbeschworene Achtsamkeit.

So spiegelt sie sich für mich einstweilen im Betrachten des endlosen Rhythmus von Wasserrückzug, schäumendem Brechen und zuletzt im Leerlaufen sämtlicher Wellenenergie am flachen Sandstrand. 🌊

Rückzug - Brechen - Auslaufen. Rückzug - Brechen - Auslaufen. Rückzug - Brechen - Auslaufen. 

Einatmen. Ausatmen.

Einatmen. Fühlen.

Lektion 7: Eine Brise Bretagne - Den Duft des Meeres atmen

Während wir hier so sitzen, findet der Duft des Atlantiks zielstrebig seinen Weg im Meer vergessen geglaubter Erinnerungen. Und wirft sogleich eine weichgezeichnete Version meiner Kindheit aus. Pazifische Strandtage. Mit Picknick & schrulliger Großfamilie… 

Dabei ist der typische Duft der See wissenschaftlich betrachtet nichts weiter als der Geruch von Dimethylsulfid. Nämlich jenem Dimethysulfid, das von Phytoplankton abgesondert wird. Plankton-Pups sozusagen. 😁

Nun, Gerüche und Gefühle - wenn auch etwas verklärte - liegen sprichwörtlich nah beieinander…

So wohl auch bei Hunden, wie der gedankenverlorene Blick auf die Brandung und die in den Wind gestreckten Schnüffelnasen meiner beiden Fellkinder mutmaßen lassen.

Nochmals einatmen. Nochmals fühlen.

Das französische Wort für einatmen ist inspirer. So nehme ich einen weiteren tiefen Atemzug Bretagne und bin fürwahr inspiriert…

Dieser Text entstand zum größten Teil im Jahr 2022 als Chumani noch bei uns war. Chumani liebte den Atlantik wie sie auch sonst alles am Leben liebte. So habe ich entschieden, sie in diesem Text (und noch einigen weiteren, die folgen werden) nochmals mitreisen zu lassen.