‚Pas de problème, je suis tyrolienne‘.  Ein bisschen vorschnell und möglicherweise auch ein bisschen hochmütig flutscht mir der mutmaßliche Beweis über die Lippen, dass ich es mit der Bergstraße ins Haute-Clarée aufnehmen könne.

Nun ja, mein fahrerisches Selbstvertrauen sprudelt aber auch echt grad über. Wie ein Töpfchen Milch, das man nur eine einzige Sekunde zu lang unbeobachtet auf der heißen Herdplatte gelassen hat. Unversehens scheint der Topf so viel voller als vom Befüllenden jemals vorgesehen. 🖕🏻

Meine Tiroler Herkunft ist in dem Gespräch mit der besorgten Reisebekanntschaft übrigens vorgeschoben. Denn die Wahrheit ist, dass ich bis zum Beginn dieser Reise bis auf wenige Ausnahmen schön bequem am Beifahrersitz gesessen hab. Ein weiterer Aspekt der Wahrheit ist, dass das Fahrzeug, in dem ich durch besagte Heimatregion rolle, ein putziger forstgrüner Fiat Panda ist. So putzig, dass er ganze 3x in meinem Van Platz hätte. Tatsache ist auch, dass ein Vergleich der Straßen des Tiroler Unterlands mit denen des südwestlichen Alpenhauptkamms geradezu an Blasphemie grenzt.

Aber all diese Wahrheiten sind eigentlich völlig egal. Denn ich bin in den letzten Wochen erneut ein kleines Stück gewachsen.

Langsam, so kommt es mir, fülle ich die 1,80m tatsächlich aus… 😌

Mein Lieblingshormon heisst Dopamin. Und ja, ich bin den Augenblicken des Lebens, in denen der Botenstoff in meinem Oberstübchen großzügig ausgeschenkt wird, absolut verfallen. 

Dopamin ist jenes Hormon, welches mich mit Glücksgefühlen belohnt, wenn ich mehr vollbringe, als ich mir zutraue und meinem Gehirn überdies auch noch mitteilt, dass ich das ruhig öfter so machen könne… Demnach spielt Dopamin auch eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Abhängigkeitserkrankungen. 

Obgleich ich gängigen - und selbstverständlich legalen - Rauschmitteln selten ablehnend gegenüberstehe, liegt mein größtes Laster also ganz woanders: 

So leide ich ganz gewiss an einer ausgewachsenen Triumpf-Momente-Sucht. Die Sucht nach Selbstachtungsaugenblicken. Die Sucht danach, gut genug zu sein…

Mut-los? Mut tanken!

2022. Es ist Winter. Es ist die Zeit des Träumens. Von all den Dingen, die wir noch erleben wollen. Und auch ganz konkret - vom nächsten Haupturlaub. Und … Ja, es ist die Zeit des Rotweins. 🍷

Von allen Visual Statements, die mithilfe lustiger Magneten die Tür meines knallgrünen Retrokühlschranks schmücken, ist mein Favorit das Rotweinglas auf graublauem Hintergrund:

Trust me, you can dance - wine.

Auf den Punkt. Ein klitzekleiner Schubser - hierzulande das sogenannte Achterl— und schon finde ich mich im expressiven Ausdruckstanz auf einer imaginären Tanzfläche - meiner Küche - wieder. 💃  Entgegen aller Rebsaftversprechungen sind meine Moves allerdings bescheiden. 

Nennt mich ruhig provinziell - Das Fundament für meine Weinschwäche liegt nicht ausschließlich in dessen Geschmack. Jawoll, ich mag ein ermutigendes Räuschlein. An dem Kollege Dopamin eben tatkräftig mitwirkt.

Nun, die Dynamik von hormoninduzierter Selbstsicherheit infolge alkoholischer Benebelung führt manchmal zu gewagten - aber nicht immer schlechten - Entscheidungen. Und an einem dieser rotweingetränkten Winterabende beschließe ich, im nächsten Haupturlaub alleine mit den Hunden zu reisen. Einen Monat lang.

Die Strecke ist schmal, ja. Aber mit dutzenden Ausweichen. Ein Klacks im Vergleich zu einigen Passagen, die ich in den vergangenen Wochen gemeistert habe. So cruise ich aufmerksam aber mindestens genauso lässig in Richtung eines der schönsten Hochtäler der Westalpen - das Haute-Clarée.

Und da isser schon, der sehnlichst erwartete Gegenverkehr. Der Blick in den großen rechten Seitenspiegel und das indessen durchaus herzeigbare Rücksetzen der 6m40 weckt Erinnerungen. Erinnerungen an den Beginn dieser Reise. An die Fahrt durch die Guil-Schlucht…

Gorges de Guil - Anfängerglück?

Wie jede andere meiner Reisen ist auch diese ganz bewusst nicht vom Planen geprägt sondern vielmehr vom opportunistischen Erleben. Und um ehrlich zu sein, hätte ich die Strecke, die so spektakulär in den Queyras führt, vorab recherchiert, ich hätte wohl vorsichtshalber einen Rückzieher gemacht. Man stelle sich nur vor, in einem der zahlreichen einsträngigen Röhren käme einem ein Fahrzeug entgegen. Wie beängstigend…

Tja, und dann? Jupp. 😝  Es sollte mein bislang erstes brenzliges Rückwärts-Ausweich-Manöver werden. Und mein Einprägendstes. Rücklings aus einem einspurigen Tunnel und noch weiter um einem entgegenkommenden LKW Platz zu machen. Und zwar so präzise, dass jegliche Nachkorrektur der Spur entfällt.

Selten im Leben war ich so sehr da, wie in diesem Augenblick. Keine Zweifel, keine Erinnerungen, keine Ängste. Nur ich, der rechte Seitenspiegel und der eingelegte Rückwärtsgang. Und so wie sich der Van Meter um Meter nach hinten bewegte, vollführten meine Dopaminchen synchron dazu ihren Moonwalk. 

Dieser Moment sollte zum Triumph über eine meiner allergrößten Reiseängste werden. Und stellt zudem den Beginn einer regelrechten Rückwärtsausweichbesessenheit dar. 

Die anerkennende Geste des Truck-Fahrers blieb übrigens nicht aus. 👌🏼

Mehr Flow = Mehr Freude

Man kann sich wohl in einen Flow tanzen. Oder, wie meine Recherchen zu dem Thema ergeben haben, etwa auch den begehrten meditativen Zustand erklettern. Oder… man ändert einfach mal den Kurs und kurbelt sich samt Camper rückwärts in die geistige Vertiefung. 🤩

Tatsächlich ist Flow - in der Definition als hochkonzentratives und die Fertigkeiten forderndes Aufgehen in einer Tätigkeit, in der so triviale Dinge wie das Nachdenken über sich selbst reduziert wird - in meinem Fall auch noch mühelos reproduzierbar, wie ich im Zuge dieser Reise lernen darf. Ich muss mich lediglich immer wieder mal auf anspruchsvolle Strecken schmeißen. Der Rest passiert dann ganz von selbst. 

Das Glücksgefühl tritt bei Flow übrigens etwas zeitverzögert ein, denn das Bestehen der hohen Anforderungen lässt dafür erstmal keinen Platz. Am Ende aber kann man sich zu 100% auf Kollege Dopamin verlassen…

Es mag mitunter vielleicht auch ein ganz klein wenig am wundervollen Wetter in diesem Frühsommer 2022 liegen, oder aber am stets einzigartigen Bergpanorama der Region, für die ich so sehr brenne. Zweifelsohne aber spielen meine regelmäßigen Flowerlebnisse  - Triumphe über fordernde, ja gar strapaziöse Situationen - eine maßgebliche Rolle bei der nachhaltigen Verbesserung meiner Einstellung zu mir selbst.

Ziemlich zufrieden und auch ziemlich stolz lehne ich mich einmal mehr in den Fahrersitz zurück, atme tief durch und warte in meiner Ausweiche die talwärts fahrenden Autos ab. Dankende Handbewegungen beantworte ich mit einem dezenten Zeigefingeranheben. Mein Herz hingegen, das brilliert grad im Carlton-Dance. ‚It’s not unusual…‘ 💃

Jupp, ich kann das. Sogar richtig gut. Und eigentlich, so scheint mir, ist das mittlerweile tatsächlich alles andere als ungewöhnlich…  💪🏻

Vollzähliges Vergnügen im Haute-Clarée

Beseelt erreichen ich und meine zwei befellten Beifahrerinnen nach zwei weiteren Rückwärtsausweichern und einer auch darüber hinaus sehr lohnenden Bergstraße den Eingang zum Campingplatz in Fontcouverte, wo uns der Lieblingsmensch entgegenwinkt. Im strammen Ledereinteiler. Denn so sieht es unser diesjähriges Reisekonzept vor: Ich mit zwei Hunden im Van, er mit der ‚Anderen‘. 🏍  Treffen unterwegs nicht ausgeschlossen.

Mein Weg führt mich in diesem Frühsommer entlang der gewaltigsten Passstraßen, in die beschaulichsten Täler, ja ganz einfach gesagt an die wundervollsten Orte der Westalpen. Eigenverantwortlich, bedacht und unerschrocken.

Und mit jedem gefahrenen Kilometer, mit jedem aufgespürtem Stellplatz, mit jeder Nacht, die ich neben meinen schnarchenden Fellkindern verbringe, potenziert sich die Erkenntnis, dass ich gerade ganz genau das Richtige tue.

Und wenn man sein Platzerl in der Welt gefunden hat, tut sich das Allerbeste in einem Menschen hervor...

Wie sich zweifellos herausliest, ist meine Westalpentour im Juni 2022 am Ende weit mehr als eine Summe der gefahrenen Kilometer. Sie ist auch mehr als die diesmal wirklich wirklich wirklich nachhaltig erlangte Routine am Steuer und auch im sonstigen Handling des Kastenwagens. Ja, sie ist auch mehr als eine Reise in meine Herzregion. Und… Sie ist sogar mehr als einer der leichtesten und innigsten Lebensabschnitte, die ich mit meinen beiden Hündinnen verbringen darf. Kurz darauf erkrankt Skye erneut schwer und überlebt gerade so. Wenig später ist schließlich Chumanis Zeit gekommen. Mein schwerster Weg… 😢

Mein ganzes Leben schon, so scheint mir, ist eine einzige glücklose Suche. Nach Zustimmung. Nach Anklang. Nach Bedeutung. Ein Zweifeln das zunehmend anstrengend wird, so wie ich mich in derlei Wünsche verbeiße.

Und so ist diese Reise vor allem eine Reise zu mir selbst. Und die ist bei Gott noch lange nicht abgeschlossen. Aber wenn ich immer wieder mehr vollbringe, als ich mir zutraue, und sei es in vermeintlichen Banalitäten, wie einspurige Bergstraßen auf und ab zu rollen und dabei entgegenkommenden Fahrzeugen souverän auszuweichen, so verspüre ich am Ende des Tages nichts als pures Leben. Und damit kommt man der Sache - zumindest vorübergehend - näher. 🤩

Der Juni 2022 ist und bleibt bis heute eines der wunderbarsten Geschenke, die ich mir selbst - und wohl auch den Menschen, die es mit mir aushalten - je gemacht habe:

Ich durfte den Hut vor mir ziehen... 🥰